Das Kunstwerk

Christo und Jeanne-Claude, Verhüllter Reichstag, Berlin, 1971-95 // Foto: Wolfgang Volz
Christo und Jeanne-Claude, Verhüllter Reichstag, Berlin, 1971-95 // Foto: Wolfgang Volz

Nach langem Ringen, welches sich durch die 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre zog, wurde die Verhüllung des Reichstagsgebäudes am 24. Juni 1995 von einer Mannschaft bestehend aus 90 Gewerbekletterern und 120 Montagearbeitern vollendet. Der Reichstag blieb vierzehn Tage verhüllt, der Abbau begann am 7. Juli, und alle Materialien wurden recycled.

 

Am 25. Februar 1994 wurde im Deutschen Bundestag in einer Plenarsitzung unter dem Vorsitz von Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth 70 Minuten über das Kunstwerk debattiert und namentlich abgestimmt. Das Abstimmungsergebnis lautete: 292 dafür, 223 dagegen, 9 Stimmenthaltungen.

 

Zehn Firmen in Deutschland begannen im September 1994 damit, die verschiedenen Materialien nach dem Entwurf der Ingenieure herzustellen. Während der Monate April, Mai und Juni 1995 haben die Stahlmontagearbeiter die Stahlkonstruktionen für die Türme, das Dach, die Statuen und die Steinvasen installiert, die es dem in Falten gelegten Gewebe erlaubten, wie ein Wasserfall vom Dach auf den Boden zu fallen.

100.000 Quadratmeter dickes Polypropylengewebe mit einer aluminisierten Oberfläche und 15.600 Meter blaues Polypropylenseil mit einem Durchmesser von 3,2 Zentimetern wurden für die Verhüllung des Reichstags benutzt. Die Fassaden, die Türme und das Dach wurden mit 70 speziell dafür zugeschnittenen Gewebepaneelen bedeckt, die doppelte Menge der Oberfläche des Gebäudes.

 

Das Kunstwerk wurde wie alle anderen Projekte der Künstler ausschließlich aus eigenen Mitteln finanziert, durch den Verkauf von Vorstudien, Zeichnungen, Collagen, maßstabgerechten Modellen, früheren Arbeiten und Originallithografien. Die Künstler akzeptieren keinerlei Fördermittel aus öffentlicher oder privater Hand.

 

Der Verhüllte Reichstag steht nicht nur für die 24-jährigen Bemühungen im Leben der Künstler, sondern auch für viele Jahre Teamarbeit der leitenden Mitglieder Michael S. Cullen, Wolfgang und Sylvia Volz und Roland Specker.

Der Reichstag steht auf einem weithin offenen Gelände, das geradezu metaphysische Assoziationen weckt. Das Gebäude ist einem ständigen Wandel und dauernden Erschütterungen unterworfen gewesen. Fertiggestellt im Jahre 1894, wurde es 1933 in Brand gesteckt, 1945 fast völlig zerstört und in den 1960er-Jahren wieder aufgebaut. Doch immer blieb der Reichstag ein Symbol für die Demokratie.

 

Die ganze Kunstgeschichte hindurch haben Stoffe und Gewebe die Künstler fasziniert. Von den ältesten Zeugnissen der Bildenden Kunst bis hin zur Kunst der Gegenwart ist die Struktur von Stoffen – Faltenwürfe, Plissees, Draperien – ein bedeutender Bestandteil von Gemälden, Fresken, Reliefs und Skulpturen aus Holz, Stein und Bronze. Die Verhüllung des Reichstags folgt dieser klassischen Tradition. Stoffbahnen – wie die Kleidung oder die Haut – haben etwas Zartes und Empfindliches, sie verdeutlichen die einzigartige Qualität des Vergänglichen.

 

Für einen Zeitraum von zwei Wochen ergab die verschwenderische Fülle von Tausenden von Quadratmetern des silbrig glänzenden, mit blauen Seilen vertäuten Gewebes einen üppigen Fluss vertikaler Falten, die Bestandteile und Proportionen des imposanten Baues hervorhoben und die wesentlichen Merkmale des Reichstagsgebäudes vor Augen führten.